Bürgerknechte 2013

„Ich habe nichts zu verbergen“

Seit wir nun tiefere Einblicke bekommen in das Treiben der amerikanischen, britischen Geheimdienste, und wie wahrscheinlich auch viele andere Geheimdienste verdachtslos Menschen ausspionieren, hört man immer wieder den Satz: Mir doch egal, ich habe nichts zu verbergen. Wahrlich der Tor und der Dumme hat nur nichts zu verbergen, er kann auch nichts verbergen, denn er redet gerne und viel.

Aber, wo viele Worte sind, da hört man den Toren, heißt es im Buch der Prediger 5; 4. Und in den Sprüchen des Salomos 9; 13-16 heißt es: Frau Torheit ist ein unbändiges Weib, verführerisch und weiß nichts von Scham. So sitzt sie vor der Tür ihres Hauses auf einem Thron auf den Höhen der Stadt, einzuladen alle, die vorübergehen und richtig auf ihrem Wege wandeln…

Einer letzten Umfrage nach haben gut 70 Prozent der Deutschen kein großes Interesse an der NSA-Spähaffäre, denn, ihrer Meinung nach haben sie nichts zu verbergen. Ich vermute unter diesen 70 Prozent sind eine übergoße Zahl Menschen vertreten, die sich als Christen bezeichnen würden. Doch leider kennen sie das Buch auf dem sich ihr Glaube gründet nicht und haben es noch nie gelesen. Ansonsten würden sie nicht so törricht daherreden. Mit Leuten die keine Geheimnisse haben und den Mund nicht halten können, sollte Mensch sich nicht einlassen. Übrigens auch ein Rat des Salomons.

November 2013

Über die Scheindemokratie

I. Teil

Solange ihr Bewußtsein nicht erwacht, werden sie niemals rebellieren, und solange sie nicht rebelliert haben, wird ihr Bewußtsein nicht erwachen können, schreibt Winston Smith, der heimliche Rebell im Buch „1984“ in sein Tagebuch. Das Rebellieren gegen die grundlegenden Regeln des Spiels in der ökonomisierten Welt-Gesellschaft, findet nicht zuvorderst auf der Straße statt. Es beginnt mit dem Denken, dem sich Stellen der Realität. Das eigene Schein-Da-Sein zu durchbrechen, ist der erste Schritt zum nonkonformen Verhalten. Die Voraussetzung hierfür ist Wahrhaftigkeit. Nun will ich ja keineswegs der Einsicht Lichtenbergs widersprechen, wonach es sich vom Wahrsagen wohl leben läßt in der Welt, aber nicht vom Wahrheit sagen. Aber da er selbst beherzt gegen diese Lebensweisheit verstieß, beweißt er mit seinem Sein um so erkenntlicher, wie notwendig Wahrhaftigkeit zur Erlangung von tatsächlicher Individualität und Freiheit ist.

Non-Konformität, die ich meine, verlangt kein Aussteigen aus der Gesellschaft, den Rückzug in die private Nische. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, es ist das Einstei-gen in die Welt, hin zur Werdung vom Da-Sein zum Sein, oder weniger hochtrabend formuliert, das Führen eines selbstbewußten, eigenständigen Lebens, ohne Bevor-mundung oder anhaltender geistiger Anleitung seitens fremder Personen oder Institutionen.

Dies ist leicht dahin geschrieben. Noch leichter wäre es, billige Ratschläge zu erteilen, wie dies von statten gehen soll. Aber man muß begreifen, daß es für die Erreichung von Individualität, Freiheit und einem dem eigenem Ich angemessenem Sein keinerlei Anleitung gibt. Allein ein derartiges Versprechen wäre perfider Hohn und eine Entmündigung. Wer sich seines eigenen Verstandes nicht bedient, wird ewig nach Anleitung suchen. Und wer Anleitung anbietet, bezweckt selten die Selbständigkeit des Anderen.

Non-Konformes Verhalten entsteht nur aus der Hinwendung zum Lebendigen, dem eigenen Ich und der Welt um uns herum, indem wir die Bilder, welche Mensch sich von der Welt konstruiert, ständig an der Realität überprüft. Der Hinweis auf die Wahrhaftigkeit ist nur das zu Bedenkengeben einer Voraussetzung. Ihre Anwendung kann in einer Welt des Scheins schon Non-Konformität sein, aber auch dann bloß als Ansatz. Für den Weg aus der Scheinwelt gibt es nirgendwo Wegweiser und keiner weiß ihn allgemeinverbindlich zu nennen. Mensch muß sich wohl oder übel selbst bemühen und sich auf die Suche begeben. Die Suche allein kann eine Bereicherung sein, häufig erhalten wir bei ihr schon viele Antworten und eventuell ist das Suchen der Weg.

Der Schein. Was ist am Schein überhaupt so verwerflich? Es kann doch sehr erquickend sein, im Glücksgefühl zu leben, die eine Scheinwelt bereitet. Das ist richtig. Aber alles Einseitige verursacht eine Verkümmerung der vielfältigen Anlagen, die im Menschen und Leben beinhaltet sind. Der Schein betäubt das Hirn und die Sinne. Er entwertet mein Ich, das Leben und die Welt, weil jedes davon als Gegenstück zur schönen Scheinwelt das Schlechte, Furchterregende symbolisieren … und sind.
Die Wirklichkeit. – Ja, die Wirklichkeit ist schrecklich. Viele Tatsachen sprechen für diese Annahme. Aber wer hindert uns daran, sie besser werden zu lassen? Dies zu erreichen oder wenigstens anzugehen, setzt jedoch den Willen zur Er- kennung der Wirklichkeit voraus. Nichtsdestotrotz werden wir niemals einen Zustand menschlichen Seins erreichen, bei dem Leid, Tod, tragisches Schicksal oder Ungerechtigkeit getilgt sind. Das anzunehmen fällt uns schwer, weil wir allein die Schattenseiten sehen, nicht die darin verborgenen Potentiale.

Neuerderings verbreiten Neurologen in Eintracht mit Computerspezialisten die Auffassung, der Mensch besitze gar keinen freien Willen, er funktioniere wie eine Fest- platte, woraus sich ableiten läßt, daß er sich und an der Wirklichkeit wenig ändern kann. Wenn er über keinen freien Willen verfügt, kann er schlecht zwischen Vernunft und Unvernunft wählen. Das ist die Rückkehr des Mittelalters, wie ja überhaupt im Umkreis von Neoliberalen, Fanatikern und Gotteskämpfern der Wunsch vorherrscht, die Aufklärung, diesen bedauerlichen Unfall der Geschichte, dem Vergessen zu überantworten. Der zürnende strafende Gott kehrt wieder zurück, bei den Gotteskriegern als Vampir, als Festplatte bei den Reduktionisten, sprich jenen fach- und sichtbeschränkten Wissenschaftlern, Spezialisten, welche Schlüsse ziehen unter Ausschaltung jeglicher Setzung bezüglich der Existenz der Außenwelt.
Mitunter ist es unnötig und nervenschonend auf „wissenschaftliche“ Argumente einzugehen oder sie widerlegen zu wollen. Die Behauptung, der Mensch habe keinen freien Willen, ist analog jenem uralten Beispielsatz aus der formalen Logik. Alle Kreter lügen, sagt der Kreter. Der Teil, alle Kreter lügen, kann niemals wahr sein. So verhält es sich mit der Behauptung, der Mensch hat keinen freien Willen, er ist nur eine Festplatte. Wissenschaftler sind, was geflissentlich übersehen wird, nämlich auch Menschen wie du und ich. Dementsprechend kann man formulieren: Der Mensch hat keinen freien Willen, sagt der Mensch. Welchen Wahrheitsgehalt können wir diesem Satz wohl zusprechen?

Die Scheindemokratie. – Sie ist Verblendung und Blendung in einem. Ersteres hauptsächlich bei den Eliten, denn sie glauben, einen Vorteil davon zu haben, wenn sie das Volk in die Abhängigkeit und Unwissenheit zurückstoßen. Ihr Denken ist von egoistischer Vorteilsnahme erfüllt. Um die Absicht aber zu verschleiern, ist der Schein dienlich. Alles soll scheinen ohne etwas zu Sein. Hinter dem Schein spielen sie wieder das alte Spiel um Macht, Einfluß und Reichtum. Dabei geht es auch und sehr wesentlich um das höchstmögliche Herausschlagen von Gewinn aus den geringer werdenden natürlichen Ressourcen, sowie deren Verteilung zum eigenen Gunsten. Die Eliten beanspruchen die Torte und sie bitte noch mit Sahne. Die Mehrheit soll den Rest, die Krümel, auflesen dürfen. Doch wer von einer begrenzten Menge eine größeres Stück will, muß es jemandem wegnehmen. Noch mehr Menschen sollen deshalb ausgemustert werden und sich mit dem Nötigsten zufriedengeben. Zur Geräuschdämmpfung des Vorgangs kristallisiert sich die Scheindemokratie als probates Mittel heraus. Wie sie funktioniert, erfahren wir jetzt in Ansätzen. Aber wie sie sein wird, können wir noch nicht wissen. Gut möglich, daß wir es nicht einmal erfahren, weil wir sie nicht mehr als das erkennen, was sie ist, da wir den demokratischen Schein für Demokratie halten …

Wir Noch-Bürger, die wir uns blenden lassen, sind am Aufbau der Scheindemokratie beteiligt – mit jeder ruhigen Hinnahme von Bürgerechtseinschränkungen; durch unseren Selbstbetrug, das Elend der Armen dort unten im Süden, der Raub an Natur und Mensch betreffe uns nicht; infolge unseres ängstlichen zu Kreuze kriechen gegenüber den Uminterpretationskünsten der political correctness Gutmenschen, welche wie ein Trupp von Desinfizieren, gepanzert in alles abweisenden Schutzanzügen, jedes unsauber Menschliches reinschrubben, auf das es bakterienfrei glänze (wo keine Bakterie, kein Leben mehr) und unsere Sprachen sterilisieren, daß man sie vor Ekel lieber verhunzt und nicht benutzen geschweige denn im Munde führen will. Allein, wer säubert, macht sich schmutzig. Und niemand verspritzt mehr Dreck als die Saubermenschen. Das und manch weiteres soll unser Opfer sein für eine bessere Welt. Das ist es … mehr oder minder für eine entmenschlichte Scheinwelt.

II. Teil

Der praktizierte globalisierte Kapitalismus, welcher die Weltwirtschaft dominiert, ist mitnichten eine Ausgeburt der Börse, einiger Manager und Finanzspekulanten, am allerwenigsten das Ergebnis berechnender Politik. Ebenso ist er kein Produkt von Komplotten, wie krude Verschwörungstheorien suggerieren, mit denen die ewig altbekannten Verdächtigen, mysteriöse Freimaurerlogen, Illuminaten und selbstverständlich die Juden, ihre Weltherrschaft ausüben. Die Erkenntnis vernünftiger Überlegungen, welche sich an Tatsachen hält, ist unaufgeregter als die halbdunklen Verschwörungsdoktrin. Sicherlich ernüchternder, dafür aber hoffnungsvoller.

Wir mögen es drehen und wenden wie es uns beliebt. Der Kapitalismus sind wir alle selbst. Jeder einzelne von uns. Es ist die von uns gewählte Form der Produktionsweise und des Warenaustausches. Das ist ernüchternd, weil wir hierbei mit berücksichtigen müssen, daß sich die Menschen eben seltener als man annimmt, bei ihren Entscheidungen vom rein rationalen Denken bestimmen lassen. An der reinen Vernunftgerichtetheit vor allem zerschellen die philosophischen Staats- oder Sozialtheorien so oft an den Klippen der Wirklichkeit. Wer lobte nicht die geistige Tiefgründigkeit der Kantischen Lehre. Doch was müßten das für Menschen sein, welche im Kantischen Sinne vernünftig handeln und leben?

Wäre der Mensch hauptgeleitet von Vernunft, dann brauchte man nur eine rational sachlich begründete Liste zusammenstellen, welche die Vernunftwidrigkeit dieses kapitalistischen Wirtschaftssystems hinreichend dokumentierte. Sie enthielte eine Auflistung all der sozialen Ungerechtigkeiten, welche dieses System hervorbringt: jeder fünfte EU-Bürger gilt laut Statistik der EU-Kommission als arm, andererseits wächst seit zehn Jahren kontinuierlich der Anteil der Millionäre und Milliardäre in der EU; des wirtschaftlichen Widersinns: einerseits das Effizienzgeschrei, andererseits eine maßlose Verschwendung; und der desaströsen Bilanz bezüglich der menschlich-physischen Lebensverhältnisse: einerseits Vereinsamung, wachsende Zahl von psychischen Störungen schon bei Schulkinder, andererseits Vergnügungssucht und Sehnsucht nach tief menschlichen Bindungen. Alle Fakten sind längst tausendmal und mehr vorgebracht.

Man kann Vernunft wünschen, auf sie hoffen, es ändert jedoch nichts daran, daß der Mensch ein von Emotionen, Stimmungen, affektiven Leidenschaften geleitetes und von Widersprüchen, Unbesonnenheiten, Eigennutzdenken durchsetztes Lebewesen ist. Seine Vernunft mag erkennen, gar willig sein; allerdings ist er unversehens bereit, aus Stolz, Eitelkeit, läppischen Launen oder Verstocktheit, die Wahrheit zu leugnen, auch wenn er sie im Stillen anerkennt. Allzu meist und zu bereitwillig sucht und findet Mensch die Mängel und Fehler beim Anderen oder den Umständen.

So wie wir das kapitalistische Wirtschaftssystem mit unserem handeln am leben erhalten, so geben wir durch unsere Willfährigkeit den herrschenden die Gelegenheit, die Demokartei in eine Scheindemokratie zu verwandeln.

In der Scheindemokratie sind die Rechte der Bürger formaljuristisch gewährleistet, doch tatsächlich werden sie unterhöhlt, in dem den Bürgern Angst eingejagt wird. Droht der Verlust von Arbeitsplätzen, wird es für berechtigt gehalten, daß die Betroffenen zum Mittel der Demonstration oder des Streiks greifen. Werden Grundrechte eingeschränkt, teilweise gar aufgehoben, demonstriert kaum jemand. Viele Bürger fühlen sich nicht einmal betroffen. Sie denken, alle Gesetze richten sich bloß gegen Handlungen, die sie niemals begehen würden, und sollen abschreckend auf potentielle Straftäter wirken.

Demgegenüber Regierungen, die sich für alles zuständig berechtigt glauben. Wie gering muß deren Vertrauen in die Freiheits- und Demokratiefähigkeit der Bürger sein. Überall und für alles bestehen Gesetze, Verordnungen, Vorschriften. Tatsache ist, bei dieser Kontroll- und Reglementierungswut kann niemand mehr auf die Straße gehen, ohne gegen irgendein Gesetz zu verstoßen oder eine Ordnungswi- drigkeit zu begehen. Wenn möglich, dies gleich unter dem wachsamen Auge des Staates. Videoüberwachung, flächendeckend, kompletter Straßenzüge und Wohnviertel, und natürlich Überwachung des Internets, unter dem Edikt der Terrorismusabwehr.

Kontrollen, Überprüfungen … eine endlose Kette des Mißtrauens. Wo bitte ist da noch Platz für den mündigen Bürger? Dem sicherheitsfixierten Staat ist der Bürger eine unerschöpfliche Quelle der Gefahr. Können wir daraus schließen, mit dem Wort „Gefahrenabwehr“ ist eigentlich gemeint: Wehrt euch des Bürgers? Ja, das dürfen wir wohl, nach dem zu urteilen, was sich Sicherheitsbehören und Politik inzwischen anmaßen. Voraussetzung der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. (…) Der Begriff des Bürgers schlechthin wird aber durch kein Merkmal zutreffender beistimmt als durch das der Teilnahme an dem Gerichte und der Regierung. Dabei war Aristoteles, der diese Zeilen schrieb, nicht einmal ein Freund der Demokratie, aber im Gegensatz zu manch heutigem Demokraten, verstand er deren Grundlagen.

Wer überhaupt erlaubt der Bürokratie, den Behörden, der Politik und nicht minder der Managerkaste die Ausübung ihrer Machtanmaßung? Wir Bürger sind es, die stillhalten oder es gut finden, wenn Politiker Gesetze verschärfen, was angeblich unserer Sicherheit erhöht. Wir wünschen uns absolute Sicherheit, ein Unding an sich, und bekommen absolute Überwachung. Ein Freier lebt nur unter Freien sicher. Sicherheit läßt sich nie mit Unterwürfigkeit erkaufen.

Man sieht es wie durch ein Brennglas, unter dem sich die Substanzen verdichten, schaut man ins Innere der Behörden. Allerorten Antragssteller, Bewerber und neuerdings „Kunden“, eine penetrante ökonomische Instinktlosigkeit, dem allein dieses Wort wie ein Pestgestank anheftet. Aber nirgendwo sind Bürger. Die Behördengänge sind der Schleichweg zum Obrigkeitsstaat. Auch hier ist längst aus dem Bürger-Recht ein Schein-Recht geworden. Formal juristisch abstrakt werden alle „Kunden“ nach dem Buchstaben der Gesetze behandelt, in praxi sind sie Untertanen. Dies ist die Lüge der Schein-Demokratie, ihre untergründige Art der Falschheit, indem sie dem Untertanen Glauben macht, er sei ein freier Bürger; und er kann nicht einmal etwas dagegen sagen, weil das bestehende formale Recht dem Obrigkeitsstaat den Anstrich demokratischer Legitimität verleiht. Wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wird der verlogene Schein zur Realität des Seins erhoben Die Schein-Demokratie funktioniert, solange die Menschen glauben, daß es Demokratie sei. Unser eigenes Versagen ermöglicht so die Beschneidung der Demokratie, der Freiheit, da wir es freiwillig aufgeben Bürger zu sein.

III. Teil

Arbeit ist die beste Polizei, … sagt Nietzsche. Damit traf er im Kern das Wesen der industrialisierten kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, deren Entwicklung zu seinen Lebzeiten, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, rasant vonstatten ging. Denn nichts sorgt für mehr Ordnung und Selbstverleugnung im Leben des Einzelnen und für Ruhe in der Gesellschaft als abhängige Erwerbsarbeit. Die Tretmühle der Erwerbsarbeit schnürt ein, formt den Menschen und hält die Beständigkeit des Oben und Unten, von Herrschaft und Unterwerfung derart stabil im Lot, daß kein Sicherheitsapparat, ob vorbeugend oder repressiv, an ihre, die Verhältnisse sanktionierende, Gewalt heranreicht. Arbeit diszipliniert, funktionalisiert das Individuum und die Massen. Man kann sagen, Arbeit, insbesonders in Zeiten der Vollbeschäftigung, war und ist die wirksamste Ordnungsmacht der Neuzeit. Bricht die Arbeit weg, bricht im Geiste die Vorstellung des Chaos aus.

Den Arbeitswillen prügelte das aufstrebende Bürgertum den landlos gewordenen Bauern ein, welche sich als Tagelöhner verdingten oder bettelnd die Städte bevölkerten. Mit Zwang, Druck, in der Regel unter Anwendung skrupellos brachialer Methoden, wurde der Mensch in die moderne Arbeitsgesellschaft gepreßt und sein Bewußtsein derart verändert, daß bis heute viele Menschen meinen, ohne Erwerbsarbeit sei gar kein sinnvolles Leben führbar. Versüßt wurde die Fron mit der Illusion, daß jeder durch Arbeit Eigentum erwerben kann. Meine Arbeit, die sie (also das zu bearbeitende Gut, Anmerk d. V.) dem gemeinen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat, hat mein Eigentum an ihnen bestimmt. Und John Locke (1632-1704), den man getrost als wortgewaltigen Verfechter des bürgerlichen Eigentums- und Herrschaftsgedenkens bezeichnen darf, fährt an späterer Stelle seines Traktates „Über die Regierung“ fort: Als Gott die Welt der ganzen Menschheit zum gemeinsamen Besitz gab, gebot er dem Menschen auch zu arbeiten – (…) Gott wie auch seine Vernunft befahlen ihm, sich die Erde untertan zu machen, d. h. sie zum Nutzen für sein Leben zu bebauen und etwas Eigenes, seine Arbeit, darauf zu verwenden. (…) Er gab sie dem Fleißigen und Verständigen zum Gebrauch (und seine Arbeit sollte seinen Rechtsanspruch darauf begründen), nicht jedoch dem Streitsüchtigen und Querulanten für seine Launen und Begierden. (…) So sehen wir, daß die Unterwerfung oder Bebauung der Erde und Ausübung von Herrschaft eng miteinander verbunden sind. Eines gibt ein Recht auf das andere, … Für Locke ging folgerichtig mit dem Erwerb von Eigentum nicht nur das Recht auf Besitz- und Kapitalsteigerung einher, sondern gleichviel der Anspruch auf Herrschaft. Wer nichts hat, ist nun einmal selbst daran Schuld, wenn er im Elend vegetiert, beherrscht wird und politisch unmündig ist.

Dies Denken nahm mit seinem Eindringen ins Arsenal der kollektiven Meinung, welches sich sogar in das Bewußtsein der Ärmsten der Armen fest einnistete, jenen ideologischen Charakter an, der bis in die Gegenwart das Handeln der Politik und die Selbstsicht der Ausgestoßenen bestimmt. Im Kontext dieser Ideologie sind Arbeitslose für ihre Arbeitslosigkeit selbst verantwortlich, denn entweder sind sie faul oder ungenügend qualifiziert oder es mangelt ihnen an Flexibilität. Egal wie, es hängt an ihnen, weshalb Politik seit jeher nur darauf verfällt, die Daumenschrauben anzuziehen. Es bedürfte etlicher Seiten zur Aufzählung all der repressiven Maßnahmen – von A wie dereinst Arbeitshäusern bis Z wie heutzutage Zugriffsmöglichkeit auf sämtliche Daten der Bezieher von Sozialleistungen – die das kapitalistische System zur Anwendung brachte und bringt, um die Nichtarbeitenden, von der Wohlfahrt Abhängigen, zu disziplinieren. Die dahinter stehende Logik bleibt sich treu, der Zwang zur Erwerbsarbeit und die Vorstellung, wer nicht einer solchen nachgeht, sei ein Taugenichts.

Während jedoch diese verquere Logik sich über die Jahrhunderte rettete und neue fröhliche Urstände feiert, haben die wirtschaftlichen Grundlagen eine komplette Veränderung erfahren. Im Gefolge des erzeugten Arbeitseifers, der Arbeitswut erreichte die Produktivität ungeahnte Höhen. Der diesen Höhenflug antreibende wissenschaft- lich technische Fortschritt, ist mit ein Ausfluß dieser Arbeitsgier. Ergebnis der turbo- haften wissenschaftlich technisch bedingen Rationalisierung von Arbeit ist die zunehmende Entwertung der menschlichen Arbeitskraft. Im Grunde sind die Menschen Opfer des Erfolges der kapitalistischen Wirtschaft und dessen Produktivitätswahns. Ähnlich wie der griechische Staatsmann und Feldherr Epameinondas nach der Schlacht von Leuktra gegen die Spartaner, kann die Menschheit ausrufen: Noch so ein Sieg und wir sind verloren! Dieser Sieg des Kapitalismus mit seinem blinden Erzeugungseifer von Gütern, der überwiegende Teil davon überflüssiger Tand, hinterläßt eine Spur der Verwüstung. Man mag es in seinen Einzelheiten gar nicht mehr aufführen, all diese weltliche und seelische Zerstörung, all dieses menschliche Leid, da es bis zum Erbrechen schon so oft wiedergekäut wurde, daß es nur langweilt.

Der moderne homo oeconomicus arbeitet nur noch bis zum umfallen, aber vom Leben weiß er nichts mehr. Ein Leben nur um des leben wollens kennt er nicht mehr und wüßte auch nichts mehr damit anzufangen.

In der Antike galt ein Mensch als Freier wenn er ein materiell gesichertes Leben unabhängig von einer anderen Person, ohne körperliche Anstrengung oder größeren Aktivitäten zum Erwerb des Lebensunterhaltes führen konnte. Von diesem Zustand, des Freien, sind wir weiter denn je entfernt. Die Erwerbsarbeit hält den Menschen im Zaum. Sie macht ihn abhängig, unfrei und sorgt dafür, daß ihm der Gedanke eines Lebens ohne Erwerbsarbeit unerträglich erscheint. In der Antike arbeiteten die Skalven. Sie litten nicht nur unter dem Arbeitszwang, sondern vor allem darunter nicht frei zu sein. Heute machen sich die Menschen selbst zu Sklaven und reden sich ein, dies würde sie glücklich machen. Zugleich bedingt ihre wirtschaftliche Unfreiheit ihre politische Unfreiheit. Denn nur Sklaven müssen regiert werden.

IV. Teil Schluss

Falls in Zukunft überhaupt noch soetwas wie Demokratie geben sollte, werden die folgenden Generationen hoffentlich Edward Snowden die Beachtung schenken, die ihm gebührt. Nämlich als Beispiel persönlichen Mutes, den zum Glück immer wieder Menschen während der Geschichte aufgebracht haben, um Zustände enzuprangen. Dabei stand meistens das Recht nicht auf ihrer Seite, aber die Gerechtigkeit. Zudem betrachten sie ihn vielleicht auch als ein Vorbild für den zivilen Ungehorsam aus einer Gewissensentscheidung heraus, wie es schon sein Landsmann Henry David Thoreau vor über 160 Jahren gefordert und praktiziert hat.

Ganz im Gegensatz zu Herrn Obama, dem begnadeten Redner und Heuchler, den wir getrost als die Verkörperung der Scheindemokratie ansehen können. Seine rethorisch geschulten Ansprachen quillen über von Preisungen der Menschenrechte, der Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Allerdings sind seine Reden oftmals wie die deutsche Oper, zu lang und zu laut. Doch seine Taten als Präsident sprechen eine andere Sprache: Die der Überwachung, Kontrolle, der Gewalt, der Verletzung des Völkerrechts und des grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber dem Volk. Er ist der perfekte Vertreter dieser Scheindemokratie, die den äußern Schein des Rechts, der Freiheit, der Unabhängigkeit und des selbstbestimmten Lebens aufrecht erhält, aber welche tatsächlich nicht mehr existieren. Für die Aufrechterhaltung dieser Fata Morgana ist der Staat unerläßlich.

Das global kapitalistisch strukturierte ökonomische System bedarf des Staates als Sicherungsmacht, die Ordnung und Ruhe gewährleistet, damit die sich verselbständigte Managerkaste ungestört ihre Geschäfte erledigen kann, und auch insofern, um die versprengten Aufmüpfigen mit sanfter, wenn erforderlich, harter Hand zur Räson zu bringen. Und zur Räson bringen heißt hier ganz im Sinn der wörtlichen Übersetzung, sie dahin zu bringen, sich ordentlich und angemessen zu verhalten, nämlich fügsam und eingepaßt in das ökonomisierte System. Um das Übrige, die Verstümmelung von Geist, Seele und Körper kümmert sich die Wirtschaft, indem sie Menschen und Bürgern zum warenfetischistischen Kunden dressiert. Verwandt dem Pawlowschen Hund, dem beim Ertönen des Glöckchens das Wasser im Maul zusammenläuft, soll der Kunde beim Ertönen eines Markennamens der Mund wässrig werden. Sein Denken, Trachten und Sein soll sich einzig um eines drehen: Kaufen! Kaufen! Kaufen! Auf verschlungenen Pfaden, aber doch nicht ganz bezugslos, ist der moderne Mensch von Descartes (1596-1650) zwiespältigem Ansatz des Cogito ergo sum ausgehend beim eindeutigen Emero ergo sum angelangt. Ihren Zweck erfüllt die mit diesem Wirtschaftssystem gekoppelte Scheindemokratie durch das endgültige Ausmerzen jener bewußten Einstellung, welche in der Demokratie die Haltung des Bürgers zum Staat kennzeichnet, daß die Regierung ein notwendiges Übel ist. In der Scheindemokratie wird die Regierung zu einem Gut, zu einem guten „Vater“, der lobt und straft, je nach Maßgabe seiner Gebote. Wollen wir das wirklich?

Juli 2013

Über die Informations- und Wissensgesellschaft

Wissen ist Ohnmacht

Nicht nur die Demokratie ist mehr als in Gefahr, durch das dominierende Wirtschaftssystem funktionsuntüchtig und von ihm verschlungen zu werden. Doch dies ist nur ein Nebeneffekt und nicht das wahre Bestreben des Kapitalismus. Stört die Demokratie die Kreise des Kapital- und Profiterwirtschaftens nicht, so mag sie fortbestehen. Zudem mußte der Kapitalismus, was Europa anbelangt, den sozialen und politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts seinen Tribut zollen. Die Verwandlung der bürgerlichen Demokratie in eine zivilgesellschaftlich soziale Demokratie wurde erkämpft, sie entsprang keinem einsichtigem Entgegenkommen des Kapitalismus.
Hinfort hat sich die Lage geändert. Die Wirtschaft spürt seit Geraumen nicht nur Aufwind, sie ist sich ihrer Macht aufs Neue gewiß. Ihre Machtstellung, die sie seit den 1980iger Jahren systematisch ausgebaut hat, gewann durch den Zusammenbruch des konkurrierenden Gesellschaftssystems noch zusätzlich an Stärke. Im Raum des freien Marktes sind die Unternehmen bestrebt, nun alles aufzusaugen, den kompletten Menschen. Sie wollen vom Leben und vor allem vom Geist, der letzten widerständigen Bastion, des Menschen Besitz ergreifen.
Dessen körperliche Arbeitskraft ist schon wieder fest im Griff des Rendite-Kapitalismus, auch wenn durch die technische Revolution und den daraus fortwährend rascher aufeinander folgenden Rationalisierungsschüben die manuelle Arbeitskraft des Menschen an Bedeutung verliert. Seit dem Eintritt der osteuropäischen Länder, Rußlands, Chinas und Indiens in die globale Weltwirtschaft, strömen rund zwei Milliarden zusätzliche Arbeitskräfte auf den Markt. Welch günstige Gelegenheit, deren Arbeits-willigkeit, ihren Hunger auf Wohlstand, deren Sehnsucht nach sozialem Aufstieg da-für auszunutzen den Lohnabhängigen in Europa und Amerika das Fürchten zu lehren. Sozialabbau, Lohnkürzungen und notfalls Erpressung mit der schamlosen Drohung, in Niedriglohnländer abzuwandern, sollen zeigen, wer der Herr im Hause ist.

Erwähnte Bedrohung erstreckt sich nicht allein auf die Demokratie,w elche widerum verbunden ist mit einer zunehmenden globalen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit.

Mit dem Aufkommen der sogenannten Infor- motions- und Wissensgesellschaft und einer Entwicklung der ohnehin an Kapital- und
Wirtschaftskraft bevorteilten westlichen Ländern zu Hochtechnologiestandorten, bestrebt, die „klügsten Köpfe“ weltweit aufzusaugen, wird die Ausgrenzung der bereits wirtschaftlich deklassierten Staaten und Bevölkerungsschichten vorangetrieben. Das Ungleichgewicht der Lebenschancen wird zusätzlich zum Vorteil der Privilegierten verschoben, wobei die kleinste Kinderstube, bald darauf das Klassenzimmer zum Kampfplatz der Globalisierung entartet. Die Selektierung übernehmen dann im Frühstadium die öffentlichen, verstärkt auch private Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Wer ausreichend Finanzmittel aufzubieten in der Lage ist, kann seine Kinder mit Förderung, Nachhilfe, guter Lehrmittelausstattung fitmachen für das knallharte Konkurrentenausstechen auf den Schulen, den Universitäten. In trauter Komplizenschaft, mit der ehrlichen Hingabe im Kopf, die Kinder doch nur auf das Leben vorzubereiten, sorgen Eltern im Bunde mit der staatlichen oder privaten Wissensvermittlungsindustrie für die Anpassungssozialisierung des Nachwuchses zu nutzbaren Individuen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses.
Vonnöten hierfür ist durchweg nur ein ökonomisch nützliches, medialisier- und kommerzialisierbares Wissen, nicht Bildung. Gefragt und erforderlich sind Information und Wissen als tauschbare Ware. Sie brauchen nur der eigenen Karriere, dem Geldverdienen, der Effizienzsteigerung der Warenproduktion dienen. Zu sonst gar nichts. Wer um seines Menschseins Willen Bildung erstrebt, insofern er sich und den Nächsten als Zweck setzt, somit das Wissen zum Sein verhilft, ist ein Narr. Denn aus gutem Grund reden die Apologeten der Nützlichkeit von der Wissens- und nicht der Bildungsgesellschaft. Mit der Wissensgesellschaft betreibt der Kapitalismus die konsequente vollkommene Kapitalisierung des Menschen.
Allein die vom Bildungsanspruch befreite Ware Wissen ist mehrschneidig und erzeugt Paradoxien. Die Paradoxie ist dem Wissen schon in dem auf der Antike fußenden bürgerlichen Bildungsideal wesensimmanent enthalten. Der von dem griechischen Philosophen Sokrates (479 v. u. Z.- 399 v. u. Z.) stammende Ausspruch: „Ich weiß nur, daß ich nichts weiß“, bringt diesen Widerspruch auf den Punkt. Natürlich kann Mensch sich Fakten, Tatsachen in Hülle und Fülle aneignen und formales Wissen reichlich anhäufen. Aber dies meinte Sokrates eben nicht. All mein Fakten- und Formalwissen befähigt mich nicht, die entscheidenden Fragen des Lebens zu lösen. Warum lebe ich? Worin liegt der Sinn meiner Existenz? Wie gestalte ich ein gutes
Leben? Was ist der Tod? Die Erfahrung jedes ernsthaft Lernenden und gebildeten Wissenden ist es, je mehr er lernt, desto mehr weiß er, daß er nichts weiß. Ja, der sogar, der, ruhig und gelassen/ Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,/ Frühzeitig seinen Lebensgang erkoren,/ Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen. So dichtete einst August von Platen. Denn auch der Gebildete kann den Widerspruch zwischen dem Wissen und der Erlangung fundierter Erkenntnisse nicht aufheben. Je größer ersteres, desto geringer die Aussicht auf Erkenntnis.
Die gepriesene Wissensgesellschaft löst diese alte Paradoxie nicht auf, sie verdrängt schlichtweg nur das Paradoxieproblem. Mit der Entsorgung des Bildungsanspruches, was zwangsläufig mit einem Werteverlust einhergeht, aber aufgrund der Bestimmung dieser Art von Wissen eine unausweichliche Begleiterscheinung ist, wird das Wissen, welche ein Teil des Zwecks der Bildung ist, zur banalen Tauschware. Wissen ist in der Wissensgesellschaft Mittel für Effizienz. Diese beinhaltet vor allem eine rasante Technik- und Technologieentwicklung. Doch damit schafft die Wissensgesellschaft neue Widersprüche. Der technische Fortschritt erzeugt ein unabschätzbares Risikopotenzial. Im Gleichklang damit verschärft die Erweiterung des menschlichen Wissens, die Spaltung weltweit im sozialen Gefüge. Die Wissensgesellschaft produziert Unmengen von Nichtwissen sowie eine Masse von Unwissenden.

Der englische Politiker und Philosoph Francis Bacon (1561-1626) vertrat am Anfang der Neuzeit am entschiedensten den Empirismus, in welchem die Ansicht zum Aus- druck kommt, daß die Menschen durch Erfahrungswissen, das sie zu Erkenntnissen führt, Macht erlangen über die Dinge und die Welt. Dermaßen fragwürdig und zweifelhaft diese Sicht auf den Sinne von Wissen und Erkenntnisgewinn inzwischen geworden ist, so war Bacon dennoch nicht der plumpen Einfalt verfallen, der in dem ihm oft zugeschriebenen Satz „Wissen ist Macht“ hineininterpretiert wird. Als Voraussetzung für ein Wissen, mit dem wir die Welt erkennen können, wie sie tatsächlich ist, sah Bacon die Befreiung des Menschen von vier „Idolen“ an, will sagen, den Bildern, die wir uns über die Welt im Kopf konstruieren. Dem „idola tribus“, jenes Bild, das der Mensch sich aufgrund seiner menschlichen Natur, welche er für das Maß aller Dinge hält, schafft und deren Ordnung und Regeln er auf die Natur überträgt. Dem „idola specus“, das Bild, welches aus unseren individuellen Vorlieben und Vorbildern entsteht. Dem „idola fori“, dem Bild, das wir erzeugen, indem wir die Wörter über den Verstand setzen, wobei wir willkürliche, törichte Zuordnungen der Wörter zu Dingen vornehmen oder nichtexistierende Phänomene mit Begriffen belegen. Und dem „idola theatri“, jenes Bild, das wir uns in Form von schlichten Theorien von der Welt erzeugen.

Selbst das im Zusammenhang mit der Bildung erworbene Wissen vermag diese Idole nicht gänzlich aufzulösen. Eine vielfach größere Abhängigkeit von „Idolen“ entsteht allerdings in der Wissensgesellschaft, in welcher das Wissen keinen Sinnbezug mehr auf den Einzelnen und den Menschen als Ganzes hat, sondern nur noch dem Nutzdenken unterworfen ist.

Die Idole der Wissensgesellschaft basieren auf dem Glauben an den Fortschritt, der Huldigung des Wachstumsfetischismus und der Vorstellung, das Wissen komme früher oder später allen zugute. Diese Ideen sind verzerrte, einseitige Sichtweisen auf die Wirklichkeit, aus denen die Idole der so vollmundig gelobten Wissensgesellschaft entstehen. Ich muß und will es mir hier auch versagen, Beispiel an Beispiel zu reihen, welche all das Gerede vom Fortschritt und der Explosion des Wissens in der Breite Lüge strafen würden. Es reicht völlig hin, anhand eines Trugbildes und der (be)trügerischen Floskel von der offenen, globalen Kommunikations- und Wissensgesellschaft, die beiden erwähnten Phänomene, der Erzeugung von Nichtwissen und Unwissenden zu belegen.

Eines der Bilder, das wir von uns wie der Welt konstruieren, ist der Glaube, Wissenschaft und technische Innovation gestalten das tägliche Leben einfacher, komfortabler und neue Wissenschaftszweige, etwa die Gentechnik, eröffnen ungeahnte Horizonte bei der Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten. Auf den ersten Blick ist dies richtig. In den zurückliegenden 150 Jahren hat die rasante Entwicklung der Technik und der von ihre bereitgestellten Hilfsmittel den Alltag grundsätzlich verändert, ihn leichter, bequemer gemacht. Fließendes Wasser in jedem Haushalt, auf einen Knopfdruck künstliches Licht, und wer besitzt heute noch eine Ahnung von der Anstrengung, stundenlang an einem Waschbrett zu stehen, um die Wäsche zu reinigen? Wir haben uns an Selbstverständlichkeiten gewöhnt, die auch der phantasiebegabte Jules Verne in seinen Science-fiction-Romanen nicht vorhersah und erfassen konnte. In 80 Tagen um die Welt, an derartige Langsamkeit würde die heutige Jet-set-Gesellschaft verzweifeln.

Doch die negativen Nachwirkungen dieser auf Wissensvermehrung beruhenden Entwicklung betreffen nicht nur die Umwelt und die Streß- wie Hektikzunahme im Leben jedes Einzelnen.
Mit all dem Wissen erzeugen wir zugleich ein wachsendes Nichtwissen über die Risiken und langfristigen Auswirkungen der neuen Technik. In den Atomkraftwerken bleiben Brennstäbe als Rückstände, deren radioaktive Strahlung über 100tausend Jahre anhält. Schon diese Zeitspanne verunmöglicht unsererseits jede weitere Einflußnahme. Der weltweiten Computervernetzung mit ihrer komplexen Technik, folgt auf dem Fuße die Anfälligkeit für kleinste Störungen. Diese Störungen können nicht bloß partielle oder lokale Ausfälle verursachen, sondern den Zusammenbruch des gesamten Systems hervorrufen. Welche Gefahren oder vielleicht auch Nicht-Gefahren bergen genmanipulierte Mais- und Sojaprodukte? Wir wissen es nicht, was Ängsten, Spekulationen und Argumenten, ohne empirische Beweisführung, Tür und Tor öffnet. Den Wissenschaftlern ergeht es dabei nicht besser, denn auch ihre Argumente sind nicht empirisch abgesichert. Ihre Beteuerungen von der Unschädlichkeit sind ein Glaube, kein wissenschaftlich abgesichertes Wissen.

In dieser prekären Lage versucht sich die Gesellschaft, mit Appellen an das moralisch ethische Verantwortungsbewußtsein der Wissenschaftler zu behelfen. Dies muß in einem soziokulturell gesellschaftlichen Umfeld ins Leere laufen, in dem andauernd nach wissenschaftlich-technischem Fortschritt gerufen wird, wo eine Eigendynamik der wissenschaftlich-technischen Entwicklungsprozesse vorherrscht und in dem persönlicher Ehrgeiz mit ökonomischen Zwängen gepaart ist. Wie sollen Wissenschaftler und Techniker verantwortungsvoll handeln, wenn die schnellstmögliche Umsetzbarkeit neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in anwendbare Technik verlangt wird, ohne daß sich deren Ungefährlichkeit erwiesen hat und das Risiko abgeschätzt werden kann, da der ökonomische Druck seitens der Unternehmen kein Warten mehr zuläßt? Daraus ergibt sich keineswegs automatisch, daß ein Wissenschaftler oder Techniker nicht aus eigener Einsicht ein Verantwortungsbewußtsein empfinden kann. Diese Freiheit ist ihm gegeben. Es ist aber eine der Schein-Freiheiten, die das gesellschaftliche und ökonomische System vorgaukelt. Denn sein Verantwortungsbewußtsein wird ihm wahrscheinlich nicht zum Vorteil gereichen. In der Konkurrenz mit jenen, die auf ethische Grundprinzipien pfeifen, zieht er den kürzeren. Die Annahme, wenn ich es nicht tue, tut es ein anderer, entspricht nicht nur der gesellschaftliche Realität, sie ist auch der Offenbarungseid bezüglich der Erwartung eines Verantwortungsbewußtseins.
Den rücksichts- oder verantwortungslosen Managern und den Dividenden gierigen Aktionären hierfür die alleinige Schuld anzulasten, greift zu kurz. Doch sie spiegeln, wenn auch in sehr ausgeprägter Weise, unser aller Denken wider, und dies wirkt gleichsam auf die Gesellschaft zurück. Wir alle tragen mit unserem Glauben sowie unseren Forderungen an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt dazu bei, den Ruf nach Verantwortung zu konterkarieren und legalisieren indirekt die Verantwortungslosigkeit. Das Wissen und die Technik stellen wir nämlich in enge Beziehung mit unserer persönlichen Freiheit. Das Wissen selbst, wie den daraus erwachsenden praktischen „Errungenschaften“, soll uns Wege für größere soziale und individuelle Chancen ebnen. Vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt erwarten wir Befreiung von lästiger, zeitraubender Handarbeit und die Schaffung einer Freiheit, die völlig neue Optionen der Lebensgestaltung und Lebensführung ermöglichen. Dies weist im Bereich der Genforschung und der Biomedizin letztlich in die Richtung der Aufhebung von Leid und Tod. Im geforderten und selbst auferlegten Anspruch der unermüdlichen Leistungsfähigkeit sind Gesundheit und ewiges Jungsein Attribute der Freiheit, während Alter, Leiden und Tod als überholte Relikte der Unfreiheit angesehen werden.
Nicht zufällig korrespondiert der Begriff Informations- und Wissensgesellschaft mit dem der Postmoderne. Beide stehen analogisch zueinander in ihrem Anspruch gesell- schaftliche Realitäten einzufangen, wiederzugeben und verstehen sich deshalb wesentlich als Beschreibung sozialer Verhältnisse. Analog sind sie jedoch auch in ihrer begrifflichen Uneindeutigkeit und ihrem diffusen Inhalt, unter dessen Dach sich scheinbar unterschiedlichste Strömungen und Entwicklungen vereinigen lassen. Wenn es innerhalb der zeitdiagnostischen Interpretation seitens der Postmoderne eine alles integrierende Formel gibt, so ist diese jene von der Freiheit. Im Ausmaß der individuellen Freiheit und dem Vermögen der spielerisch experimentellen Selbstverwirklichung registriert die Theorie der Postmoderne den gesellschaftlichen Wandel, aber auch die Auflösung traditioneller Bindungen. Das eine feiert sie als Gewinn von Individualität und ungeahnter Lebensperspektive für den Einzelnen. Das Zweite betrachtet sie als unabänderliche Folge der sich wandelnden Struktur der Produktions- und Lebensweisen, die auf der Automatisierung und Abwertung der industriellen produktiven
Arbeit beruhen. Mit ihrem normativen Grundsatz der bindungslosen, spielerischen, experimentellen Selbstgestaltung des Menschen, transportiert die Theorie der Post- moderne Nietzsches Lebensphilosophie von unabhängiger Selbsterzeugung und -verwirklichung in die Gegenwart, ohne den ganzheitlichen Kontext mitzuliefern.
Was die Theoretiker der Postmoderne verschweigen, ist die Voraussetzung, welche Nietzsche zur Erreichung dieses Zustandes setzt, als da ist die Schaffung eines neuen Menschen, des Übermenschen. Nietzsches Gedanke, der neben seinem humanistischen, auch einen sehr elitären Zug hat, kommt jetzt mit der Biomedizin, vom Elitären zum Egalitären umgedeutet, direkt zur Vordertür herein. Die Genwissenschaft mit ihren Versprechungen an alle und den von ihr erzeugten Heilserwartungen bei vielen, ist das Vehikel dafür. Vorerst beschränken sich die Genforscher auf die Entwicklung von Therapien zur Verhinderung oder dem Heilen körperlicher Gebrechen, was sie mit PDI, der embryonalen Stammzellenforschung, erreichen wollen. Es dürfte allerdings nicht unberechtigt sein, zu erwarten, daß die Gentechnologen auch bald das Mensch-Sein in seiner geistigen und physischen Zufälligkeit für unannehmbar erklären. Vor allem dann, wenn die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen bestehen, aus der Zufälligkeit eine vermeintliche Gewißheit zu machen. Noch bestreitet man dies, wiegelt ab. Doch der Boden hierfür wird mit der „Ethik des Leidens“ bereitet, indem man das Leiden kranker Menschen gegen die allgemeine Ethik des Mensch-Seins in Stellung bringt und beginnt, gegen sie auszuspielen. Hierbei wird so bewußt wie geschickt mit dem postmodernen Konzept der individuellen Freiheit operiert. Diese Freiheit kennt nichts außer den Willen und die Wünsche des Einzelnen. Es ist eine pervertierte Freiheitsidee, die immer deutlicher einer ihrer relevantesten Erscheinungen zeitigt, die der fortschreitenden gesellschaftlichen Desintegration. Im Fahrwasser der Genwissenschaft kommt die Freiheit des Einzelnen, selbst zu bestimmen, ob er leiden will oder nicht, ob er Kinder mit Gebrechen zur Welt bringen will oder nicht, ob er ein scheinbar unwürdiges Leben leben will oder nicht. Das sind jedoch aus den subtilen Verlockungen der modernen Bio-Medizin und dem dadurch beeinflußten öffentlichem Bewußtsein entstehende Scheinfreiheiten; denn wer will wirklich leiden, wer will keine gesunden Kinder und wer möchte schon ein Leben in Unwürde führen? Ethik wird so instrumentalisiert. Menschen benutzen andere Menschen als Mittel ihrer Bedürfnisse, wenn sie entscheiden, daß nur ein gesundes Kind
geboren werden darf, möglichst noch mit erwünschten äußeren Merkmalen, blond- oder dunkelhaarig, mit braunen oder blauen Augen, und daß Behinderung schlicht etwas Unwertes ist. Und das schleicht sich allmählich ins allgemeine Denken ein, wo es sich transformiert zum Gedanken vom unwerten und werten Leben, der in der „Ethik des Leidens“ seine mit einem humanistischen Anstrich getarnte, rechtfertigende Begründung findet.

Die sittliche Verantwortung, die mit Freiheit unabdingbar verbunden ist, wird ersetzt von der Freiheit zur persönlichen Willkür. Mit der „Ethik des Leidens“ werden jedoch vorausschauend viel weitreichendere Positionen angepeilt, die man bald, nachdem mit immer neuen Tabubrüchen die geistige Atmosphäre erzeugt ist, Zug für Zug einnimmt und zum Ausdruck für mehr Freiheit, Individualität und Lebensqualität deklariert. Also, warum soll nicht jemand daran leiden, daß er nicht schön, nicht geistreich ist, nicht ewig leben kann? Steht ihm nicht die Freiheit zu, von diesen Leiden befreit zu werden, wenn es gentechnisch machbar ist?

Wir sollten jedoch die Konsequenzen bedenken. Die Erhebung von Betroffenenrechten zum Maßstab für Entscheidungen, welche die ethischen Grundsätze mensch- lichen Seins betreffen, unterminieren schleichend entscheidende Elemente der Demokratie und deren sozial-ethische Basis. Sie zerstören über Jahrtausende entwickelte zivilisatorische Errungenschaften, die ein menschliches Zusammenleben ermöglichen. Anhand der Ausbildung des Rechtes, läßt sich dies verdeutlichen. Der antike Tragödiendichter Aischylos (525 v. u. Z – 455 v. u. Z.) hat in Anlehnung an die alten griechischen Mythen, im dritten Schauspiel der Orestie, den Wandel von der personlichen Blutrache des Opfers oder seiner Angehörigen zum betroffenenunabhängigen Recht und Gesetzt dargestellt. Orestes, von den Erinnyen, welche die Rache der Opfer vertreten, wegen des Mordes an seiner Mutter, Klytaimestra, verfolgt, flieht in den Apollo-Tempel zu Delphi. Apollon befiehlt Orestes, nach Athen zu gehen, um sich einem unabhängigen Richterspruch zu unterwerfen, damit er erlöst wird. Die Erinnyen stimmen dem Verfahren zu und Orestes muß sich einem Geschworenengericht von athenischen Bürgern, unter dem Vorsitz der Göttin Athene, stellen. Der unabhängige Richterspruch lautet: Orestes ist unschuldig. Aus den Erinnyen, den Furien, werden infolgedessen die Eumeniden, die Wohlgesinnten, also Göttinnen der Gnade in der neuen Ordnung vom opferunabhängigem Recht und Gesetz. Diese zivilisatorische Leistung der Umwandlung des Betroffenen-Rechtes in ein unabhängiges, von der Allgemeinheit anerkanntes Recht, wird mit der modernen „Ethik des Leidens“ ausghebelt. Weil, wenn Leidende als Betroffene einen Anspruch auf Verallgemeinerung ihres Rechtes nicht leiden zu müssen haben, ist rational-logisch kaum einzusehen, warum Opfer von Gewalttaten nicht wieder Anspruch über das Betroffenenrecht auf Selbstjustiz haben dürfen. Dies ist kein übertriebener Vergleich. Eine Freiheit, die das Wollen der Stärkeren und die Wünsche Betroffener zum Richtwert für das Allgemeine erhebt und nicht mehr an gesellschaftlich miteinander ausgehandelten Rechten und Pflichten orientiert ist, fördert das Aufkommen einer neuen Barbarei.
Der Barbarei geht die verdrängte, aber empfundene Ohnmacht aus dem Nichtwissen über die entstehenden Risiken und Konsequenzen voraus. Jede neue Technologie birgt in sich nicht nur technische Grundrisiken, deren Tragweiten uns verschlossen bleiben, sie rüttelt auch an bisher gültigen ethischen Normen und an den Grundwerten einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.

Das ist durchaus nicht immer negativ. Mit der Verbreiterung des Wissens- und Informationsangebotes werden herkömmliche Wertigkeiten, die in einer normativen Rangordnung standen, aufgehoben oder verlieren an Bedeutung. Mensch muß nicht mehr den einen Film gesehen, das eine Buch gelesen haben, um mitreden zu können. Das Bestehen unteranderem auf einen literarischen Kanon, dessen Unerläßlichkeit heute beschworen wird, hatte stets, auch während der „guten alten Zeit“, immer nur Bedeutung für die intellektuell Aktiveren und innerhalb einer bestimmten Gesellschafts- und Bildungsschicht. Damals verknüpfte sich jedoch das Wissen oder Nicht-Wissen dieses Kanons mit einer gesellschaftlichen Schichteinstufung. Einer der klassischen Bildung, einschließlich der alten Sprachen, zuvorderst des Lateinischen, Unkundiger war aus den höheren und gebildeteren Kreisen ausgeschlossen. Daher ist es durchaus berechtigt, der Informations- und Wissensgesellschaft eine Demokratisierung des Zuganges zum Wissen und dessen Anwendbarkeit zuzuschreiben.

Dieser positive Befund kann jedoch nicht über die Kehrseite hinwegtäuschen, die mit dem Wort Beliebigkeit gekennzeichnet ist. Besteht bei den Normen und den Werten keine Rangfolge mehr, so sind sie alle gleichwertig hoch anzusetzen oder allesamt bedeutungslos. Die Wissensgesellschaft als solche produziert jedoch keinen Wert. Erst der Umgang des Menschen in der kapitalistisch organisierten, aber auch demokratisch verfaßten Gesellschaft gibt der Informations- und Wissensgesellschaft die Richtungund den Wert, den sie allein von sich aus nicht hat.
Ob die pessimistischen Voraussagen der Kultur- und Zivilisationskritiker wahr werden, die in der Wissensgesellschaft halt einen weiteren Mosaikstein im Bild eines heraufziehenden Zeitalters der Uniformität sehen, in dem Werte beliebig wertlos sind, der freie Gedanke eliminiert ist und Wahrheit nicht existiert, wo die Sprache Lüge ist und in einem „Neusprech“ die Begriffe verkehrt werden, wie es Orwell in seinem Buch „1984″ exemplarisch anhand der drei Parolen des „Ministeriums für Wahrheit“ vorführt (Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke), wird davon abhängen, inwieweit wir diese Wissensgesellschaft menschlich gestalten. Im Moment, wie oben gezeigt, bemächtigt sich die Wirtschaftselite mit ihrem Nutzdenken der in der Wissensgesellschaft gegebenen Möglichkeiten. Dinge und Werte sind nicht nur wegen der Aufhebung der Rangordnung beliebig, ihre Beliebigkeit ist der Ausfluß der Käuflichkeit von allem und jedem. Die Käuflichkeit untergräbt auch die ethischen Werte, denn wer sich die Therapien der Bio- und Genmedizin leisten kann, wird sie in Anspruch nehmen, ungeachtet und abseits jeder Ethik.
Das Nachsehen haben die sozial und wirtschaftlich deklassierten Unterschichten, aus denen sich unter diesen Verhältnissen das Heer der Unwissenden rekrutiert, das die ökonomisierten Wissensgesellschaft konstitutiv erzeugt. Gegen diese neuerliche Benachteiligung und Ohnmacht rebellieren die betroffenen Unterschichten mit der Kultivierung der Ignoranz. Nichtwissen wird zum Statussymbol, zum Erkennungsmerkmal der Schichtzugehörigkeit. Doch es ist nur ein individualisiertes Rebellieren, kein sich Wehren, weshalb das System, flexibel wie es ist, dieses Rebellentum in politisch, wirtschaftlich vorteilhafte Bahnen zu lenken, als auch in ein Instrument der Herrschaftssicherung umzufunktionieren vermag. Instrumente hierfür sind Massenkultur und die Massenmedien, als deren Sprachrohr. Aus den Tempeln der Wissensgesellschaft, den Gymnasien, Universitäten, Forschungseinrichtungen, und damit vielfach vom Erlernen der Kulturtechniken und dem Erwerb von Medienkompetenz ausgeschlossen, können sie den Anforderungen der Wissensgesellschaft nicht entsprechen. Wissen erzeugt bei ihnen Ohnmacht. Doch anstatt ihnen den Zugang zu erleichtern, bedienen die Massenmedien, im Sog des Einschaltquotendenkens und ihres Gerangels um Werbeinnahmen, den Hang jener Bevölkerungsschichten zur Verachtung des Wissens mit Fernseh-Shows à la „Big-Brother“, peinlichem Schwadronieren in dümmlichen Talk-Shows, Life-Style-Magazinen und wahrlich geistigem Schund jeglicher Art. Die dumpfe, tumbe Blödheit der so schnell aufgepäppelten wie wieder fallengelassenen „Stars“ soll den Benachteiligten und ohnehin Abgeschriebenen, vorgaukeln, daß gesellschaftliche Anerkennung auch ohne den Ballast von Wissen oder Erfüllung der Ansprüche einer Wissensgesellschaft erreichbar ist. Doch in den Augen des in der Wissensgesellschaft integrierten Teils der Bevölkerung, wie in denen der Mächtigen, machen sie sich damit nur lächerlich, was zusätzlichen Frust erzeugt, weil die Benachteiligten zwar nicht recht ergründen und wissen warum, aber sehr wohl fühlen, daß sie nicht ernst genommen werden.

Die Gaukelei gerät zur gefährlichen Brandstiftung durch Einbeziehung der bewußten Bedienung von Vorurteilen und latenten oder manifesten Formen der Abwertung, bis hin zur Ausgrenzung sozialer Gruppen und Minderheiten. Um von der durch die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben verursachten sozialen Spaltung in der Gesellschaft abzulenken, besinnen sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten jener altbekannten Maxime der Römer: Teile und herrsche. Die Gemeinschaft soll nicht die wirklichen Nutznießer dieser Art von Globalisierung erkennen. Vor nichts haben die Eliten mehr Furcht, als vor dem Eindringen des Wissens in die Masse. Und so versuchen sie propagandistisch den Unmut der Benachteiligten, die auch in Mehrheit das Heer der Unwissenden bildet, zu kanalisieren und hinzulenken auf angebliche Sündenböcke. Ausländer, Juden, Homosexuelle, Behinderte und aktuell Muslime pauschal, die man über einen Kamm schert, müssen als Projizierungsfläche für das „gesunde Volksempfinden“ herhalten. Stillschweigend oder mit hohlen Menschlichkeitsphrasen auf den Lippen, legitimieren die Eliten mit ihrer Propaganda Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen, die allein aufgrund ihrer wirklichen oder zugeschriebenen Eigenschaften und unabhängig von ihrem tatsächlichen individuellen Verhalten, einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden. Wie angenehm, wie ablenkend, wie nutzbringend – für die Herrschenden -, wenn sich die Armen aus nichtigen Gründen, angestachelt von anerzogenen oder erworbenen Ideologien, selbst die Köpfe einschlagen. In Kriegen massakrieren sich Menschen, die sich nicht kennen, für Menschen, die sich kennen, sich aber nicht massakrieren, lautete das Fazit, das der französische Schriftsteller Paul Valèry aus dem sinnlosen Morden des I. Weltkrieges zog.

Daran hat sich nicht viel geändert. Wie einst, so mißbrauchen für ihre Zwecke die weltweit agierenden Eliten, die sich kennen und einen kultivierten Umgang in ihren abgeschirmten exklusiven Enklaven rund um den Erdball miteinander pflegen, das im Menschen vorhandene Potential an Xenophobie, Gewaltbereitschaft und dessen Sehnsucht nach Halt in mehrheitsfähigen Normen, Einstellungen. Mit Bedacht ihre Deutungsdominanz einsetzend, verbreiten sie Ideologien. Aber wo Ideologie ist, kann kein Wissen sein. Je weniger die Menschen wissen, je größer ihre Ohnmacht, desto sicherer die Herrschaft der Eliten.

Juli 2013